Die ukrainische Armee kommt derzeit zügig voran: Fast panisch verlassen die russischen Truppen die umkämpften Gebiete, sie sind personell knapp und haben sehr wenig Munition. Die große, gefährliche Frage ist, wie Kremlchef Wladimir Putin auf die Niederlage seiner Armee reagieren wird: Wird er Atom- oder Chemiewaffen einsetzen? Die Experten Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München und Peter Neumann vom Kings College London analysieren für Business Insider die aktuelle Situation in der Ukraine. Die letzten Tage waren gute Tage für die Ukraine, wenn man in Kriegszeiten so etwas schreiben kann: 6.000 Quadratkilometer Land – so viel hat die Armee laut Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Anfang September von den russischen Besatzern zurückerobert. Ukrainische Truppen durchkämmen derzeit die zurückeroberten Gebiete im Osten nach Kollaborateuren, Minen werden geräumt. In der Region Charkiw waren die russischen Truppen buchstäblich überfordert: Die Russen flohen nahezu panisch aus dem Gebiet und ließen viele Waffen und schweres Gerät zurück – obwohl sie bereits mit logistischen Problemen zu kämpfen hatten. In Russland sind erste Anzeichen eines Stimmungsumschwungs zu erkennen: Wurden staatliche Propagandaerfolge der Ukraine bislang beschönigt oder heruntergespielt, so finden sich nun neue Töne. In einer Fernseh-Talkshow diskutierten beispielsweise Duma-Abgeordnete, Militärs und Kommentatoren über die aktuelle Lage in der Ukraine. Überraschend war, dass auch deutlich kritische Stimmen zu Wort kommen durften, die gegen die Besetzung des Nachbarlandes sind und weitere Kämpfe ablehnen. Zugegebenermaßen verfolgte die Kritik auch ein primäres Ziel – nämlich Kreml-Chef Wladimir Putin in ein gutes Licht zu rücken. Geheimdienste und Generäle werden für den desaströsen Zustand der russischen Truppen und ihr Versagen verantwortlich gemacht, nicht aber diejenigen, die den Krieg überhaupt begonnen haben. Aber die große und gefährliche Frage ist jetzt: Wie wird Putin auf die Rückschläge reagieren? Business Insider sprach mit den renommierten Experten Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München und Peter Neumann vom Kings College London, um die neuesten Nachrichten zu erhalten. auch lesen Explosionen auf der Krim: Russland zieht laut geheimem Nato-Bericht Kampfjets aus der Ukraine ab
Sind die Errungenschaften der Ukraine der Wendepunkt im Krieg?
Der ukrainische Vormarsch wird als allmählicher Sieg bei der Rückeroberung besetzter Gebiete angesehen, was Hoffnungen auf einen militärischen Wiederaufbau über die Ukraine hinaus weckt. Aber wir sollten uns nicht zu früh darüber freuen, warnt Militärexperte Masala im Gespräch mit Business Insider: „Meiner Meinung nach gibt es keinen Grund zu sagen, dass dies der Wendepunkt in diesem Krieg ist. Die Russen versuchen, ihre Front wieder zu stabilisieren. Sie haben große logistische Probleme. Es fehlt an Munition und Personal. Aber wenn sie es schaffen, sich hier zu stabilisieren, werden wir schnell wieder auf das Kampfniveau der letzten drei Monate zurückfallen. Aber nichts davon sollte die Tatsache verleugnen, dass es ein unglaublicher militärischer Erfolg war, weil die Ukrainer es geschafft haben.“
Warum ist das russische Militär so schlecht?
„Erstens hat die Ukraine entlang der 1.300 Kilometer langen Frontlinie systematisch mit Russland verbundene Logistikzentren angegriffen und bombardiert. Sie zerstörten Munitionsdepots und griffen die russische Luftwaffe im Süden an, was zu einem Rückzug von der Krim führte. All das hat die Voraussetzungen für den Erfolg der letzten Tage geschaffen“, erklärt Masala. „Aber was selbst die Ukrainer nicht vorhersehen konnten: das Ausmaß der Panik unter den russischen Truppen. Die Soldaten flohen, weil sie wussten, dass sie den Ukrainern unterlegen waren.“ Carlo Masala ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München. In seinem Podcast „Ukraine – Die Lage“ analysiert er die aktuellen Entwicklungen rund um das Bündnis warpicture/dpa/Marijan Murat
Warum wechselt Putin die Generäle?
In den letzten Wochen häuften sich Berichte, dass Russland anscheinend ständig wechselnde Generäle hat. Die Hintergründe sind von außen schwer zu erkennen: Es könnte eine Rebellion gegen den Krieg sein oder einfach nur ein verzweifelter Versuch, fähigeres Personal heranzubilden. Masala: „Niemand weiß, was dahintersteckt, wenn Russland ständig die Generäle wechselt: Gibt es Widerstand in der Militärführung? Oder werden sie dafür bestraft, dass sie die gewünschten Ergebnisse nicht erzielen? Schließlich geht es dem russischen Militär sehr, sehr schlecht und im Moment erntet es ein Lächeln nach dem anderen.”
Wie involviert ist Putin in militärische Entscheidungen?
„Wir wissen, dass Putin aktiv am Krieg beteiligt ist: Er spricht offenbar selbst mit Feldkommandanten, teilt Strategien und Taktiken mit und gibt Anweisungen. Sein Stabschef wurde zuletzt vor einigen Wochen im Zusammenhang mit einem Militärmanöver gesehen, ansonsten ist er aus der Öffentlichkeit verschwunden“, sagte Masala gegenüber Business Insider.
Wie wird Putin auf sein militärisches Versagen reagieren?
Unklar bleibt, wie Putin auf das Versagen seines Militärs reagieren wird. Eine Möglichkeit besteht laut Carlo Masala darin, einer sogenannten „besonderen Militäroperation“ offiziell den Krieg zu erklären: „Dies würde ihm die Möglichkeit geben, die Generalmobilmachung auszurufen. Ihm würde ein riesiger Pool von Männern zur Verfügung stehen, die er an die Front schicken könnte – Rekrutierungsprobleme wären auf einen Schlag gelöst. Aber sie sind alle, und Sie müssen es deutlich sagen, militärisch nicht sehr gut ausgebildet.« Professor Neumann befürchtet einen Strategiewechsel hin zu einer „Politik der verbrannten Erde“: „Das bedeutet großflächige Bombardierung von Innenstädten und Zerstörung politischer Ziele – ohne Rücksicht auf die dort lebenden Menschen. Ich denke an das, was in Mariupol passiert ist, nur viel schlimmer.” Anfangs verzichtete Russland auf Gräueltaten und Massenvernichtungen, weil es immer noch ein Interesse daran hatte, dass die Ukrainer das russische Militär nicht vollständig hassten. „Jemand wollte das propagandistische Bild der ‚befreiten‘ Bevölkerung aufrechterhalten. Darin ist Moskau kläglich gescheitert – es hat den Widerstandswillen der Ukrainer grob unterschätzt“, sagte der Geopolitiker. Professor Peter Neumann lehrt am Kings College London und ist Experte für politische Sicherheit. Sein Buch „Die neue Weltordnung: Wie der Westen sich selbst zerstört“ ist soeben erschienen. alliance image/ZB/Karlheinz Schindle Ein russischer Raketeneinschlag in ein Kraftwerk in der Nähe von Charkiw legte am Sonntagnachmittag weite Teile des Stromnetzes in der Ostukraine vorübergehend lahm. „Hunderttausende Ukrainer fanden sich im Dunkeln wieder – ohne Strom. Heime, Krankenhäuser, Schulen, kommunale Infrastruktur“, sagte Selenskyj am Montag in seiner Videoansprache. “Russische Raketen treffen genau solche Objekte, die absolut nichts mit der Infrastruktur der Streitkräfte unseres Landes zu tun haben.” Er interpretierte die Bombardierung als Rache für den Vormarsch der ukrainischen Armee in der Region Charkiw.
Würde Putin in der Ukraine auch chemische oder gar nukleare Waffen einsetzen?
Masala: „Natürlich gibt es im Hintergrund immer diese theoretische Möglichkeit, chemische oder nukleare Waffen einzusetzen, was ich im Moment für sehr unwahrscheinlich halte. Es macht keinen strategischen Sinn, weil die Kosten für Putin zu hoch wären. Wo sollte er diese Waffen einsetzen? In Kiew, um die Ukrainer zu übergeben? Das würden sie nicht tun, das ist inzwischen wohl auch Putin klar geworden. Es macht auch keinen Sinn, es an vorderster Front einzusetzen: Hier würde es riskieren, die eigenen Leute zu infizieren.“
Neumann sieht das ähnlich: „Im Moment halte ich den Einsatz von Atomwaffen für ausgeschlossen. Putin weiß, dass die USA in einem solchen Fall sofort aktiv in den Krieg eingreifen werden. Das wäre das Ende von Putin und er weiß es.”
Dasselbe gilt für Chemiewaffen: „Es ist schwer vorstellbar, dass die USA und Europa tatenlos zusehen würden, wie ukrainische Bürger durch Senf- oder Chlorgas verletzt und getötet werden. Natürlich denkt man sofort an Barack Obamas rote Linie, die er erstmals in Syrien gezogen und nach dem Einsatz von Giftgas nicht konsequent verfolgt hat. Aber: Joe Biden hat die schwerwiegenden Folgen dieses Fehlers gesehen, und ich bezweifle, dass er ihn wiederholen würde.”
Auch die Nato sieht vertraulichen Lageberichten zufolge derzeit keine Bedrohung durch Atom- oder Chemiewaffen, trotz des ständigen Geschreis. Noch Anfang September hieß es in einem Bericht: “Uns liegen keine Berichte vor, dass Russland beabsichtigt, nukleare und/oder chemische Waffen einzusetzen.”
Welche Folgen hätte der Einsatz von Atomwaffen?
Masala: „Darüber hinaus wird der Einsatz von Nuklear- oder Chemiewaffen wahrscheinlich das bewirken, was er bisher verhindern konnte: Russlands vollständige internationale Isolation. Sogar Nationen wie China, Indien, Brasilien, Südafrika, Indonesien werden wahrscheinlich dagegen sein. Auf der Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags vor anderthalb Jahren…