Stand: 18.09.2022 12:52 Uhr                 

Die Preise in Deutschland steigen rasant – genau wie vor einem halben Jahrhundert. Wo sind die Parallelen zwischen der heutigen und der vergangenen Inflation? Wir, was ist jetzt anders? Von Steffen Clement und Daniel Hoh, Mr

“Müssen Sie höhere Heizkosten bezahlen?” fragt die TV-Reporterin die Bewohnerin am Eingang des Hauses, die daraufhin einen Brief aus der Tasche zieht: „Wir zahlen 40 Mark im Monat und werden in Zukunft 80 Mark sein . Das ist doppelt.” Nur die Münze verrät, dass es sich um einen TV-Beitrag aus dem ARD-Archiv handelt. Diese Einordnung könnte von Bundeskanzler Olaf Solz stammen: „Die Energiekrise betrifft alle Länder der westlichen Welt.“ Aber es sind die Worte von Altkanzler Willy Brandt, ebenfalls SPD, mit denen er im November 1973 für den „autofreien Sonntag“ wirbt.

Rückblick: Die Ölkrise der 1970er Jahre traf auch Kindergärten

16.09.2022 16:48 Uhr

Mehrere Parallelen

Die Parallelen zwischen den 1970er Jahren und heute sind für Wirtschaftsprofessor Peter Tillmann von der Universität Gießen offensichtlich. „Damals vervierfachte sich der Ölpreis, jetzt steigen die Preise, vor allem für Erdgas, stark an.“ Wie damals gibt es diesen Preisschock weltweit: die nächste Parallele.

Eberhard Flammer kann sich noch gut an die Ölkrise und den damaligen Preisboom erinnern. Er war damals 20 Jahre alt und hatte gerade eine Lehre bei einer Bank abgeschlossen. Der Preis an der Zapfsäule hat sich innerhalb weniger Tage auf mehr als eine Mark verdoppelt. Der Preis für einen Liter Heizöl, den er in seiner Erinnerung suchte, stieg von rund zehn Pfennig auf 60 Pfennig. Wer nur wenig Öl im Tank hatte, stellte die Heizung ab.

Die Gesellschaft reagierte damals mit Verachtung: „Die Öl-Idole im Nahen Osten sind zum Feind geworden. Lasst sie ihr Öl essen und trinken, wir nehmen es ihnen nicht mehr weg“, beschreibt er die damalige Stimmung . Ob die deutsche Gesellschaft ähnlich reagiert, werden die kommenden Wochen und Monate zeigen.

Lernerfolg in Zentralbanken

Damals trieben steigende Energiepreise die Inflation auf neue Rekordhöhen. Im Dezember 1973 betrug die Preissteigerung 7,9 Prozent – genau so viel wie im Vormonat. Damals wie heute herrscht in der Ökonomie Konsens: Bei stark steigenden Preisen ist es die zentrale Aufgabe und Macht einer Notenbank, die Inflationsrate durch höhere Zinsen zu senken. Nur bei der Frage nach dem angemessenen Zeitpunkt und der Höhe von Zinserhöhungen gehen die Meinungen immer auseinander.

Experte Tillmann sieht in der historischen Erfahrung einen Vorteil für die Gegenwart. Damals wurde den USA und Europa klar, dass ein zu zögerliches Handeln zu noch größeren Problemen führen würde. “Zumindest hat die US-Notenbank ihre Lektion gelernt”, sagt Tillmann. Es erfordert entschlossenes Handeln der Europäischen Zentralbank (EZB). Die EZB hat in der vergangenen Woche die größte Zinserhöhung ihrer Geschichte beschlossen und den Leitzins um 0,75 Prozentpunkte auf 1,25 % angehoben.

Kommt die Massenarbeitslosigkeit zurück?

Steigende Zinsen sind jedoch Gift für das Wirtschaftswachstum und können die Arbeitslosenquote erhöhen. Genau das geschah vor etwa 50 Jahren, als die Zahl der Arbeitslosen in kürzester Zeit von 273.000 (1973) auf 1,1 Millionen (1975) anstieg.

Hierin liegt der größte Unterschied: Statt Stellenabbau sind jetzt der demografische Wandel und der Fachkräftemangel die großen Themen. Bestes Beispiel dafür ist der ehemalige Banklehrling Eberhard Flammer, der seit Jahrzehnten einen Automobilzulieferer mit weltweit 1.300 Mitarbeitern leitet. In die Aus- und Weiterbildung hat der Mittelständler in den vergangenen Jahren nach eigenen Angaben viel investiert. “Die hätten unsere Grundtasche entstaubt”, sagt Firmenchef Flammer, “wenn wir die Unsicherheit mitgebracht hätten.”

Eine Rückkehr zur Massenarbeitslosigkeit scheint unmöglich – in der heutigen Zeit eine beruhigende Erkenntnis. Aber wird die Inflation bleiben? “Die Krise, die gerade erst beginnt, sollte nicht heruntergespielt werden.” Olaf Scholz könnte die Einschätzung von Willy Brandt heute wohl wörtlich wiederholen.