Am Sonntagabend ist der Kursaal in San Sebastián fast voll, als die Lichter gedämpft werden und ein Moderator – allein – auf die Bühne tritt. Nach zwei morgendlichen Pressevorführungen ist es die offizielle Uraufführung von „Sparta“ von Ulrich Seidl, an der er selbst nicht teilgenommen hat. Am Tag zuvor sagte er, er befürchte, seine Anwesenheit könne die Premiere seines neuen Regiewerks „überschatten“, das beim Internationalen Filmfestival in der baskischen Küstenstadt im Wettbewerb steht. Stattdessen las die Moderatorin Seidls Grußwort vor. Erst auf Baskisch, dann auf Spanisch, schließlich auf Englisch – wie am nächsten Tag in der Festivalzeitung abgedruckt: „Ich freue mich sehr, dass Sie heute Abend hier sind – bei der Weltpremiere meines Films „Sparta“ – und ich freue mich auch ein wenig tut mir leid, dass ich nicht bei dir bin. Ich bin gerade in Rumänien, wo ich den Film den am Film beteiligten Eltern und Kindern gezeigt habe. Festivalleiter José Luis Rebordino unterstützt “Sparta” von Anfang an. Ich bin ihm sehr dankbar für seine standhafte Haltung. Der Film steht jetzt alleine da. Ich wünsche Ihnen eine gute Besichtigung und hoffe sehr, dass ich ein andermal zum Festival kommen und persönlich meinen tiefen Respekt und Dank aussprechen kann.” Auf jede Version der Botschaft folgt ein kurzer, wohlmeinender Applaus. Von Irritation ist bei diesem ungewöhnlichen Ereignis keine Spur. Das Publikum ist entspannt. So auch bei der Festivalleitung selbst, die trotz Medienrummel nach Beschwerden über die Verfilmung von „Sparta“ bei „Spiegel“ und „Falter“ an der Vorführung des Films festhielt. Dann geht das Licht aus und der Samtvorhang öffnet sich. Im Raum herrscht konzentrierte Stille, auch während der nächsten 100 Minuten. Wenn endlich der Abspann läuft, dauert es ein paar Sekunden, ähnlich wie bei der ersten Pressevorschau am frühen Morgen. Dann beginnt das Publikum zu applaudieren, kurz und höflich. Nicht mit der Begeisterung, die in manchen Medien kursiert, oder gar Standing Ovations. Aber auch ohne offensichtliche Unmutsbekundungen.

Kritiker vermeiden vorschnelle Verurteilungen

Ein Blick in die spanische Presse am nächsten Morgen verstärkt den Eindruck, dass „Sparta“ vor allem als Kunstwerk geschätzt wird. Die unerklärlichen Produktionsbedingungen werden in einen Kontext gestellt, ohne sich in Spekulation oder vorschneller Verurteilung zu verlieren. Neben der „narrativen Subtilität“ („ABC“) und der „genauen Beobachtung des Verhaltens eines gequälten Kerls“ („La Vanguardia“) wurde in Kritiken immer wieder auf die Gewalt und Gleichgültigkeit der Vaterfiguren verwiesen, denen die Kinder gegenüberstehen Der Film wird belichtet. Denn das ist ein Markenzeichen von Seidls Film: wie er die inneren Kämpfe eines Pädophilen mit den dunklen Prägungen zweier Elterngenerationen verschränkt – der der Väter der rumänischen Jungen und der des betagten Vaters der Hauptfigur (gespielt von Hans-Michael Rehberg , der 2017 starb). Im Pflegeheim, in dem er an Demenz erkrankt ist, singt er Soldatenlieder und rezitiert Naziparolen. Und das sollte noch diskutiert werden, abseits der heutigen Mainstream-Debatte. [ST01Q]